29

Alex schrie.

Panik erfasste sie, als der Älteste seine glyphen-bedeckten Beine beugte und tief in die Hocke ging, während das bernsteinfarbene Glimmen seiner Augen Kade in ein schauriges Licht tauchte.

„Alex, hau ab.“

Sie schluckte, ihre Kehle war staubtrocken. „W-was?“

„Hau ab!“, befahl ihr Kade, seinen Blick fest auf die Gefahr vor sich gerichtet.

„Geh zum Flugzeug, heb ab. Flieg so weit wie möglich von diesem Berg weg.

Los!“

Angst strömte ihr durch die Adern, aber ihre Beine verweigerten den Dienst.

Sie konnte Kade nicht allein zurücklassen, egal, was er sagte. Oder womit er konfrontiert war. Sie würden sich ihm gemeinsam stellen. „Ich gehe nicht. Ich will nicht...“

„Verdammt, Alex, hau ab!“, fauchte er und griff nach einer seiner halb automatischen Pistolen im Gürtelholster unter seinem Parka.

Seine Bewegungen waren so schnell, dass sie ihnen kaum folgen konnte. In einer Sekunde glitt seine Hand unter den offenen Reißverschluss der Jacke, in der nächsten hielt er bereits die Waffe im Anschlag und gab mehrere Schüsse ab.

Doch der Älteste war schneller als Kade.

Er wich den Kugeln aus und stieß sich dann mit einem Satz vom Boden ab, um sich auf Kade zu stürzen - was ihm auch gelungen wäre. Doch plötzlich kam Hunter aus dem Nichts geflogen. Der riesige Gen Eins stürzte sich von einem höher gelegenen Felsvorsprung auf den Ältesten und riss ihn mit sich auf den schneebedeckten Boden, wo sie sich in einem unentwirrbaren Knäuel herumwälzten und miteinander rangen.

In Kraft und Stärke waren sie einander fast ebenbürtig, und jeder von ihnen kämpfte auf Leben und Tod.

Kade stürzte sich ins Getümmel, gerade als Hunter einen heftigen Hieb auf Halsansatz und Schulter abbekam. Blut spritzte aus der Wunde, was den Ältesten nur noch mehr in Raserei versetzte. Sein Blick wurde wilder, seine Fangzähne fuhren sich noch weiter aus. Er legte seinen dicken Kopf zurück und riss den Mund zu einem wütenden Heulen auf.

Kade feuerte einen Schuss ab, und statt wieder auf Hunter einschlagen zu können, kostete es den Ältesten wertvolle Sekunden, Kades Kugel auszuweichen.

Alex blinzelte, und das war exakt die Zeitspanne, die der Älteste brauchte, um seine Finger um Kades Pistole zu schließen. Er zerquetschte das Metall in seiner Faust, und dann schleuderte der Außerirdische Kade mit einer Kraft, die sie kaum fassen konnte, in die Luft. Er landete am äußersten Rand der Klippe und schlug sich am Gestein den Kopf auf, Blut lief ihm über die Schläfe.

„Kade!“, schrie Alex. Ihr Herz gefror zu Eis.

Er versuchte aufzustehen, es blieb jedoch bei einem unbeholfenen, benommenen Versuch. Stöhnend sank er zurück. Jetzt eine falsche Bewegung, und er war verloren.

„Kade! Mein Gott - nicht bewegen!“

Um sie herum tanzten Flocken. Seit sie gelandet waren, hatte sich der Sturm fast zu einem Blizzard gesteigert. Sie konnte gerade noch Hunters riesigen Schatten ausmachen, als er sich vom Boden erhob, um sich erneut auf den Ältesten zu stürzen. Mit einem bösartigen Zischen fuhr die Kreatur herum und stieß den großen Gen Eins von sich.

Dann begann der Älteste, sich an Kade am Rand des Abgrunds heranzupirschen.

Alex' Herz wollte ihr aus der Brust springen, als sie sich zentimeterweise zu ihrem Flugzeug vorkämpfte. Sie würde nicht weglaufen, sogar jetzt nicht. Zwar hatte sie in ihrem Leben noch nie solche Angst gehabt, aber sie musste etwas für Kade und seine Brüder tun, egal, wie wenig sie letztendlich damit ausrichten konnte.

Sie schnappte sich das geladene Gewehr, das sie im hinteren Teil der Maschine aufbewahrte.

Sie legte an. Kade versuchte gerade, sich wieder aufzurichten, und der Älteste kam ihm immer näher - sie durfte nicht zulassen, dass die Kreatur ihn erreichte.

Alex drückte ab.

Der Schuss explodierte in der schneedurchtosten Dunkelheit wie ein Donnerschlag.

Und der Älteste hatte ihn nicht kommen sehen. Er hielt seine riesige Hand gegen die Brust gepresst, Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch.

Der Außerirdische fletschte die Zähne und fauchte wütend. Dann schlich er wieder vorwärts ... allerdings nicht mehr in Kades Richtung, sondern zu ihr und Luna neben dem Flugzeug.

Von irgendwo in der Nähe hörte Alex Wolfsgeheul.

Es waren viele Tiere, mindestens ein Dutzend, und durch die eisige Kälte des Schneesturms und ihre Panik angesichts der entsetzlichen Situation an der Felskante konnte sie fast das rhythmische Trappeln ihrer Pfoten hören.

Alex wusste, dass die Wölfe nah waren, trotzdem war sie auf ihren Anblick nicht vorbereitet, als sie plötzlich über die zerklüfteten Felshänge unter ihr angestürmt kamen.

Das Rudel jagte geschlossen heran und stürzte sich auf dasselbe Ziel: die außerirdische Kreatur, die vor Wut aufbrüllte, als die acht Raubtiere angriffen.

Und während die Wölfe den Ältesten anfielen, ihn bissen und an ihm zerrten, stieg von unten ein weiterer Gegner über den Grat.

Seth.

Alex stockte der Atem, als der Stammesvampir, der Kade so ähnlich sah, aus den Schatten und dem wilden, wirbelnden Schneesturm auftauchte. Aber jetzt wirkte er nicht mehr so vollkommen identisch mit Kade, sondern eher wie ein Spiegelbild - irgendwie seitenverkehrt, als wäre er die wildere, gefährlichere Hälfte des Stammesvampirs, den sie liebte.

Seths gewaltige Fangzähne schimmerten knochenweiß. Seine Augen verströmten ein tödliches bernsteingelbes Licht, so sengend wie Laserstrahlen.

Alex schluckte, als er sie mit einem kurzen Seitenblick streifte. Sie glaubte, in seinen harten Zügen eine Entschuldigung zu lesen. Vielleicht auch ein wenig Reue.

Doch dann stieß er sich mit einem Kampfschrei, der ihr das Blut gefrieren ließ, kräftig ab und katapultierte sich auf den Ältesten.

Sie standen zu nah am Klippenrand

Die Vorwärtsbewegung war zu heftig, um sie abzubremsen.

Alex riss die Augen auf, als ihr klar wurde, was gleich passieren würde. Und kniff sie eine Sekunde später fest zusammen, als Seth und der Älteste über die Felskante fielen.

„Seth!“

Kade schrie den Namen seines Bruders, seine Benommenheit von der Kopfverletzung war schlagartig verschwunden, als er Seth im Kampf mit dem Ältesten sah. Und eine Sekunde später schnürte ihm Panik die Kehle zu, als sie neben ihm über die Felskante fielen und in die Dunkelheit stürzten.

Plötzlich gab es ein Rumpeln aus allen Richtungen, fast ein Donnergrollen, nur dass es aus der Erde unter ihm kam. Und aus der Felswand über ihm.

Dort lösten sich mit gewaltigem Getöse Eis und festgefrorener Schnee.

Die Lawine toste wie eine Flutwelle den Steilhang hinab, Tonnen gefährlicher Schnee- und Eismassen fegten an Kades Kopf vorbei und in die tiefe Schlucht hinab. Eine blendende, erstickende Wolke feiner Pulverschneekristalle stieg auf. Sie legte sich eisig auf Kades Gesicht und zwang ihn dazu, den Blick von dem schneeverschütteten Abgrund abzuwenden, in den der Älteste und sein Bruder gestürzt waren. Eine so erdrückende Masse Schnee konnte niemand überleben.

Kade spürte, wie sich zarte Hände um seine Schultern legten, und die Wärme von Alex' Körper, als sie ihn umarmte und festhielt. Und hinter ihnen auf dem Grat hörte er leise Stimmen. Es war das ungläubige Gemurmel von Hunter, Tegan und Chase angesichts dessen, was da eben geschehen war.

„Kade“, flüsterte Alex mit leiser, tröstender Stimme. „Oh, Gott ... Kade.“

Alles, was er wollte, war, die Arme um sie zu legen und die Liebe anzunehmen, die sie ihm gerade anbot, doch sein Herz schrie nach seinem Zwillingsbruder.

Der Gedanke, ihn verloren zu haben, wühlte ihn auf; Seths Opfer war etwas, das er noch nicht verarbeiten konnte. Zu schrecklich, um wahr zu sein.

Kade befreite sich aus Alex' schützenden Armen und kroch an die äußerste Kante der Klippe.

„Seth!“, brüllte er in die felsige Leere und reckte sich, um auch nur den winzigsten Hoffnungsschimmer dafür zu finden, dass sein Bruder nicht tot war.

Und da ... ein paar Hundert Meter unter ihnen auf einem Felsvorsprung lag eine schemenhafte Gestalt. Sie bewegte sich nur schwach, war aber am Leben.

Da war er, der Hoffnungsschimmer.

„Herr im Himmel, das ist er.“ Er stand auf. „Seth, halt durch!“ Alex schnappte nach Luft. „Kade, was machst du da? Kade, nicht ...“

Er sprang von der Klippe.

Alex' Schrei folgte ihm, als er mit einem genau berechneten Satz auf der Felsnase landete, seine Stiefel kamen unmittelbar neben seinem Bruder auf.

Kade kauerte sich hin und wischte Eis und Schnee von Seths zerschundenem Gesicht und Körper.

„Verdammt, Seth.“ Seine Stimme überschlug sich in einer Mischung aus Erleichterung und Schmerz, als er die schweren Verletzungen begutachtete, die sein Bruder vom Kampf mit dem Ältesten und dem Sturz davongetragen hatte. Seth blutete aus zahlreichen Schürfwunden an Kopf und Gliedmaßen, aber es war die scheußliche, klaffende Rumpfwunde, die Kade am meisten Sorgen machte.

Sich von einer solchen Verletzung zu erholen, war schon eine Herausforderung für Stammesvampire, die körperlich gut in Form waren. Aber für jemanden, der so abgemagert und ausgezehrt war wie Seth? Scheiße! Es sah gar nicht gut für ihn aus.

Seths Augen waren geschlossen, sein Körper schlaff. Er atmete kaum, außer dem leisen Rasseln, das aus seinen Lungen drang, als er den Mund öffnete und Kade etwas zu sagen versuchte.

„G-geh“, keuchte er kurz darauf. „Du kannst ... kannst mich nicht retten, Bruder.“

Kade stieß einen wilden Fluch aus. „Und ob ich kann, verdammt. Ich hol dich hier raus.“

„Nein. Lass mich hier ... ich sterbe. Bin schon tot. Wissen wir beide.“

„Nicht so, Bruder“, stieß Kade hervor. „Du wirst wieder gesund. Ich bring dich heim in Vaters Dunklen Hafen, und dann erholst du dich von allem hier.“

„Nein“, murmelte Seth leise. Er zischte vor Schmerz und schlug langsam die Augen auf. „Nein, Kade. Werd ich nicht.“

Der Anblick von Seths Blick brachte ihn beinahe dazu, sich abzuwenden. Seine Pupillen waren nur noch nadeldünne, vertikale Schlitze in einem Meer von grellem Bernsteingelb. Der wilde, tödliche Blick brannte vor Qualen, und seine Fangzähne waren noch immer ausgefahren. Die Glyphen,  die durch die großen Risse in seiner Kleidung zu sehen waren, waren dunkel und pulsierten farbig, als wäre er am Verhungern.

Die Anzeichen waren klar und deutlich, aber es brachte Kade fast um, es sich einzugestehen: Seit er ihn zuletzt gesehen hatte, war sein Bruder der Blutgier verfallen.

Seth war zum Rogue mutiert.

„Für mich gibt's kein Zurück mehr“, murmelte Seth. „Du hast mich ja gewarnt ...“

“Scheiße“, flüsterte Kade. „Verdammt, Seth. Nein. Nein, das darf nicht wahr sein.“

Seth schnappte nach Luft und bekam einen heftigen Hustenanfall. Sein Körper zitterte, die Haut schien vor Kades Augen immer blasser zu werden. „Lass mich sterben, Bruder. Bitte.“

Kade schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Das weißt du doch. Ich hätte dich nicht aufgegeben, nicht bevor ... nicht jetzt. Du hast mir da oben das Leben gerettet, Seth. Und jetzt werde ich deins retten, verdammt.“

Er wandte den Kopf und schrie zu Tegan und den anderen hinauf. „Ich brauche ein paar Seile. Mein Bruder ist verletzt. Er schafft's nicht allein da hoch. Ich werde auch einen Gurt brauchen, um ihn nach oben zu ziehen.“

Die Krieger spähten zu ihnen hinunter und verschwanden dann, um die Sachen zu holen. An ihrer Stelle tauchte jetzt Alex' Gesicht auf, allein ihr Anblick tröstete und erfüllte ihn mit einem Gefühl reiner, aufrichtiger Liebe - etwas, das er im Augenblick mehr brauchte als alles andere.

Seths zerschundene, blutige Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. „Du bist verliebt“, keuchte er mit leiser Wehmut in der Stimme.

„Ja“, erwiderte Kade. „Sie heißt Alexandra. Ich mache sie zu meiner Gefährtin, wenn sie mich haben will.“

Seth schloss die Augen und nickte schwach. „Ich hätte sie gerne kennengelernt.“

„Wirst du.“ Kade starrte auf ihn hinab. Der verletzte Körper war auf einmal seltsam ruhig geworden. „Durchhalten, Seth. Komm schon ... mach die Augen auf. Du musst atmen, verdammt!“

Doch Seths Augen blieben geschlossen. Er holte Luft, aber nur ein letztes Mal.

Beim Ausatmen fiel sein Brustkorb zusammen, dann war er tot. Seths Qualen waren ausgestanden.

Kade nahm den übel zugerichteten Körper seines Bruders in die Arme und wiegte ihn sanft. So saß er mit ihm auf dem gefrorenen Felsvorsprung und betete, dass Seth endlich Frieden gefunden hatte.

Lara Adrian- 07- Gezeichnete des Schicksals
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